Tiefendimension der Lebenswelten

In kulturell diversen Stadtteilen spielt Glaube im Privaten und in der Öffentlichkeit manchmal direkt, oft aber indirekt eine Rolle. Oft verstärken Glaubensbekundungen, verbunden mit zum Teil spezifischem Brauchtum, das Gefühl der Fremdheit unter den Menschen. Dieses Gefühl, einer fremden Kultur zu begegnen, kann sich aber schnell auflösen, wenn man aufeinander zugeht und versteht, warum das Gegenüber sich so verhält. In allen Altersgruppen und allen Bereichen Sozialer Arbeit spielen kulturell bedingte Einstellungen eine Rolle. Die Kinder und Jugendlichen wachsen schon jetzt in einer großen Glaubens- und kulturellen Vielfalt auf. Ein großer Anteil von ihnen hat einen Migrationshintergrund. Deshalb brauchen all diejenigen, die mit jungen Menschen und ihren Familien zu tun haben, gute Beispiele, wie man multikulturelle Gemeinwesen proaktiv gestalten kann.

Glauben und Religiosität sind noch da – aber anders

Die anhaltende Säkularisierungswelle hat die Religiosität der Menschen nicht so weit zurückgedrängt, wie noch vor einigen Jahren vermutet. Allerdings hat sich die Bedeutung von Glauben und Religion verändert, die konfessionellen Bindungen sind für viele Menschen nicht mehr so wichtig. Religiosität und persönlicher Glaube begegnen uns heute in vielen individuellen Formen. Der hohe Grad an Diversität ist nicht nur Folge vieler zu uns geflüchteter Menschen, sondern auch Ausdruck sowohl des Wunsches nach Orientierung in einer globalisierten, unübersichtlichen Welt als auch des Bedürfnisses, eine Welt zu transzendieren, in der es scheinbar nur noch darum geht zu funktionieren. Demzufolge können Glaube und Religiosität zentrale Ressourcen der Lebensgestaltung darstellen. Sie sind ein wesentlicher Resilienzfaktor bei der Auseinandersetzung mit existenziellen Themen. Allerdings überschattet die Politisierung von Religion zur Radikalisierung von Machtinteressen diese positive Seite. Sensibel für die ganze Lebenswelt Im Projekt Religions- und Kultursensibilität (RKS) im Rauhen Haus wurde ein Ansatz für die sozialpädagogische Arbeit entwickelt, der religions- und kultursensibles Vorgehen in eine lebenswelt- und ressourcenorientierte Pädagogik integriert. Jeder Mensch hat ein Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Heimat, das mit seiner individuellen Selbstentfaltung in Einklang kommen soll. Kultur und damit auch Religion spielen eine Rolle. In einer Gesellschaft der Vielfalt begegnen wir einer Vielfalt der Kulturen und Religionen. Das Zusammenleben in unserer Gesellschaft braucht Toleranz. Glaubensvorstellungen und kulturelle Identitäten gehören nach unserem Verständnis zur tieferen Dimension individueller Lebenswelten. Das macht sie bedeutsam für die Soziale Arbeit. Viele Phänomene sind zurückzuführen auf den biografisch gewachsenen Glauben und kulturelle Bindungen. Sie prägen den Alltag in Familien. Sie können Ressourcen sein, die festgefahrene Strukturen transzendieren. Sie können aber auch als scheinbar unüberwindbare Festlegungen existenziell notwendige Veränderungen behindern. Religions- und Kultursensibilität als Teil lebensweltorientierter Sozialer Arbeit bezieht beides mit ein.

Ressourcenförderung und Empowerment

Gerade in den pädagogischen Prozessen der Kinder- und Jugendhilfe geht es um Bedingungs- und Wirkungszusammenhänge von Ressourcenförderung und Empowerment. Ein erweiterter Ressourcenbegriff wird „aus der Person selbst und ihrer Lebenswelt heraus begründet und (ist) nicht von der Definition Dritter und deren Interessen abhängig. In einem ‚autonomen Ressourcenbegriff‘ der Adressatinnen und Adressaten konstituieren sich Eigenkontrolle, Selbststeuerung, Selbstachtung, Selbstbewusstsein, Sinndeutungen und Würdebehauptungen des Menschen“ (Blank 2012, S. 8). Zur Klärung von Bedingungen und Voraussetzungen für gelingende Empowermentprozesse ist die Bedeutung der Kernressourcen „Macht“ und „Kraft“ wesentlich, sowohl auf der personalen wie auf der organisationalen und natürlich der gesellschaftlichen Ebene. Der Zugang, die Verteilung und der Wert von Ressourcen sind eine gesellschaftliche Machtfrage. „Ein Verständnis von sozialem und kulturellem Kapital, an dem alle marktunabhängig teilhaben können, verweist auf einen grundlegen - den autonomen Ressourcenbegriff. In ihm verwirklichen sich Reziprozität und Teilhabe als Voraussetzungen für ein als gelungen empfundenes Leben“ (Blank 2012, S. 9). Professionalität und Ethik Als Grundlegung und Ergänzung einer Konzeption von Sozialraum- und Ressourcenorientierung erscheint ein ethisches Selbstverständnis für sozial - pädagogisch Professionelle wesentlich als ständige Infragestellung alltäglicher Selbstverständlichkeiten. Damit befähigt die Ethik die Professionellen gleichsam zur Distanzierung von einer unkritischen Übernahme von Wissenschaftlichkeit wie auch von einer Verabsolutierung des beruflichen Selbstverständnisses. Im Rahmen seiner Überlegungen zu „advokatorischer Ethik und sozialpädagogischer Kompetenz“ beschreibt Brumlik (2000) das Konzept personaler Integrität als Zentrum des professionellen Handelns; damit ist der Konflikt zwischen faktischer und idealer Autonomie der Klient*innen thematisiert. Dies meint die ethische Seite einer „Dienstleistungsarbeit“ im sozialpädagogischen Handlungsfeld, deren spezifische Professionalität sich darüber hinaus eben in der bewussten Anerkennung der/des Anderen als – trotz aller Hilfsbedürftigkeit – selbstbestimmtes Subjekt manifestiert. Gerade der be - wusste Umgang mit dieser Differenz befähigt und erfordert professionelles Handeln im Unterschied zu Laien- oder Selbsthilfe.

Drei Fragen verweisen auf die Leistungskraft solcher ethischen Argumente: 1. nach den Pflichten, die eine im sozialen Bereich tätige Person hat; 2. nach den Rechten, die ihr zukommen; und 3. nach der Gerechtigkeit jener institutionellen Strukturen, die sowohl Rechte und Pflichten der Professionellen als auch die Rechte und Pflichten jener regeln, die freiwillig oder unfreiwillig mit diesen Institutionen in Kontakt kommen. Fazit: Glaubens- und kultursensibel arbeiten In der Sozialarbeit Tätige sind herausgefordert, glaubens- und kultursensibel zu arbeiten. Fachkräfte der Sozialen Arbeit müssen dafür nicht im Sinne Max Webers „religiös musikalisch“ sein. Unabhängig von ihrer eigenen Glaubenspraxis und auch mit einem säkularen Selbstverständnis können sie glaubens- und kultursensibel arbeiten, sofern sie bereit sind, die damit zusammenhängenden Fragen zu reflektieren. Glaubens- und Kultursensibilität beschreibt in der Sozialen Arbeit eine Fähigkeit, die sich auch den religiösen Erfahrungen und Glaubensthemen anderer Menschen empfindsam, feinfühlig und respektvoll öffnet, die die Realität von Glaube in der Lebenswelt der Menschen überhaupt differenziert wahrzunehmen in der Lage ist und in die professionellen Handlungskonzepte zu integrieren weiß.

Aus: Lebenswelten im Dialog - Glaubens- und kultursensible Praxis in Hamburg-Mitte
1. Auflage, Hamburg 2020 ISBN 978-3-00-066814-2

Literatur
Beate Blank: Die Interdependenz von Ressourcenförderung und Empowerment, Opladen, Berlin, Toronto 2012.
Micha Brumlik: Advokatorische Ethik und sozialpädagogische Kompetenz. In: Siegfried Müller, Heinz Sünker, Thomas Olk, Karin Böllert (Hrsg.): Soziale Arbeit. Gesellschaftliche Bedingungen und professionelle Perspektiven, Neuwied 2000, S. 279 – 287.
Bernd Dewe, Hans-Uwe Otto: Professionalität. In: Hans-Uwe Otto, Hans Thiersch, Rainer Treptow, Holger Ziegler (Hrsg.): Handbuch Soziale Arbeit, 6. Auflage, München 2018, S. 1203-1213.
Klaus Grunwald, Hans Thiersch: Lebensweltorientierung. In: Hans-Uwe Otto, Hans Thiersch, Rainer Treptow, Holger Ziegler (Hrsg.): Handbuch Soziale Arbeit, 6. Auflage, München 2018, S. 906-915.
Heiner Keupp: Individuum/Identität. In: Hans-Uwe Otto, Hans Thiersch, Rainer Treptow, Holger Ziegler (Hrsg.): Handbuch Soziale Arbeit, 6. Auflage, München 2018, S. 646-654.
Thomas Möbius, Sibylle Friedrich (Hrsg.): Ressourcenorientiert arbeiten. Anleitung zu einem gelingenden Praxistransfer im Sozialbereich, Wiesbaden 2010.
Hans Thiersch: Moral und Soziale Arbeit. In: Hans-Uwe Otto, Hans Thiersch (Hrsg.): Handbuch Soziale Arbeit, 5. Auflage, München 2015, S. 1058-1069.
Hans Thiersch: Alltag braucht Transzendenz. In: Matthias Nauerth, Kathrin Hahn, Sylke Kösterke, Michael Tüllmann (Hrsg.): Religionssensibilität in der Sozialen Arbeit. Positionen, Theorien, Praxisfelder, Stuttgart 2017, S. 29-40.