artengel im Rauhen Haus

Ein Engel für Das Rauhe Haus

In der Alten Bäckerei ist ein neuer Bewohner eingezogen: Ein Engel aus Holz hat in der Cafeteria des Rauhen Hauses seinen Platz gefunden. Der Hamburger Künstler Hauke Jessen hat das Triptychon, das den Titel "Land in Sicht" trägt, geschaffen: Drei Paneele aus altem Eichenholz zeigen einen androgynen Jugendlichen, umgeben von gesprengten Ketten und federleichten bunten Schmetterlingen. Herzstück des Kunstwerks ist eine Taube, die dem Betrachter vermeintlich entgegenfliegt. Ein dynamisches, ausdrucksstarkes Werk, das viele Assoziationen auslöst. Das ist ganz im Sinne von Hauke Jessen: „Im öffentlichen Raum liegt die Verantwortung des Künstlers darin, dass Menschen etwas damit anfangen können. Kunst ist nicht Dekoration. Ich mag Figuren mit Attributen, die man lesen kann – so wie die Schmetterlinge.“

Inspirierende Gespräche auf dem Stiftungsgelände

Entstanden ist das Kunstwerk im Rahmen des Projektes „artengel“ der Nordkirche. Es ist das erste in der Reihe von Kunstaktionen, in die Bewohnerinnen und Bewohnern von medizinischen oder sozialen Einrichtungen einbezogen worden sind. In seiner Vorbereitung hat der Holzbildhauer dafür Gespräche mit drei Menschen aus dem Rauhen Haus geführt. „Das Leben schreibt die Geschichten“, findet Hauke Jessen, zum Beispiel die eines jungen Mädchens im Konflikt zwischen Mutter und Stiefvater oder die eines Autisten, der gemobbt wurde und dennoch anderen hilft. Besonders beeindruckt hat ihn ein Bewohner, drangsaliert vom autoritären Vater, der aus Versehen das Haus der Großeltern anzündete: „Der trägt an seiner Schuld schwer wie Blei."

Hoffnung und Zuversicht

"Land in Sicht, singt der Wind in mein Herz.
Die lange Reise ist vorbei.
Morgenlicht weckt meine Seele auf.
Ich lebe wieder und bin frei."

Ton Steine Scherben, 1975

Von ähnlichen Themen und Gefühlen, wie sie Hauke Jessen in seinen Gesprächen gehört hat, singt auch Rio Reiser mit seiner Band Ton Steine Scherben. "Land in Sicht" hat Jessen bei seiner Arbeit inspiriert und ist Titel des Kunstwerks geworden.

Dass sein Werk in Verbindung mit dem Rauhen Haus entstehen konnte, freut den gebürtigen Nordfriesen. „Mein bester Freund hat hier an der Evangelischen Hochschule Sozialpädagogik studiert“, erzählt er. Mit Herzklopfen hat Hauke Jessen seine ersten Entwürfe vorgestellt und sich über die ihm gewährte künstlerische Freiheit sehr gefreut: „Nur wenn Freiheit existiert, kann Neues entstehen.“

Über das Werk und seine Entstehung

Alte Bäckerei 
Horner Weg 190, 22111 Hamburg
Öffnungszeiten: Mo-Fr, 9.30 - 16.30 Uhr

Land in Sicht - Ein Besuch in der Werkstatt

Bildhauer Hauke Jessen

Der Bildhauer Hauke Jessen wird 1971 in Dagebüll, Nordfriesland geboren. Die Kindheit und Jugend zwischen Deich und Meer, die Marschlandschaft, der Wind und weite Himmel sind auch künstlerisch prägend. Nach einer Ausbildung zum Holzbildhauer an der Werkkunstschule Flensburg geht er auf eine traditionelle dreijährige Wanderschaft in Europa. 

Seit 1998 arbeitet Hauke Jessen als selbstständiger Bildhauer in Hamburg. Er bezieht sich auf die Kunstgeschichte, psychologische sowie philosophische Perspektiven oder Attribute der Gegenwart. Beschädigte Schönheiten, androgyne Züge, die Vermeidung einer heroischen und idealisierten Darstellung von Mensch und Tier sind wiederkehrende Elemente. Sein Atelier befindet sich in einer Scheune im Hamburger Stadtteil Alt-Osdorf. Hier entstehen Holzskulpturen, Bronzeplastiken, Gemälde und Zeichnungen. haukejessen.de­

artengel - Kunst in der Begegnung

Dr. Anna Luise Klafs ist Studienleiterin für Kunst und Kirche am Pädagogisch-Theologischen Institut der Nordkirche. Die Theologin und Künstlerin leitet das Projekt „artengel“ in der Nordkirche. In diesem Rahmen ist neben vielen weiteren Kunstwerken die Skulptur „Land in Sicht“ entstanden, die in der Alten Bäckerei auf dem Stiftungsgelände ihren Platz gefunden hat.

Frau Klafs, wie ist das Projekt „artengel“ mit dem Rauhen Haus verbunden?
Unser Projekt hat eine ganz besondere Verbindung zum Rauhen Haus als einer der Gründungsstätten der Diakonie. Ursprünglich sollte es hier seinen Anfang nehmen und das erste Werk vorgestellt werden. Doch die Skulptur, die für Das Rauhe Haus in Auftrag gegeben wurde, benötigte mehr Zeit. Umso mehr freuen wir uns, dass das Triptychon von Hauke Jessen jetzt im Rauhen Haus zu sehen ist.

Was hat die Kunstaktion „artengel“ mit der Pandemie zu tun? 
Wir wollen damit etwas für Menschen tun, die von Corona und Kontaktbeschränkungen während der Pandemie besonders getroffen sind: Menschen, die in Pflegeheimen, in sozialen und medizinischen Einrichtungen leben. Unser Projekt bringt sie mit Kunstschaffenden zusammen und ermöglicht beiden Seiten etwas, das sie in dieser Zeit besonders brauchen: Begegnung!

Wofür steht „artengel“? 
Der Engel ist Mittler und Botschafter! Er ist eine Art Medium für die Begegnung zwischen den Menschen und den Kunstschaffenden. Sie führen Gespräche mit Menschen über ihren persönlichen Weg und wichtige Themen in ihrem Leben. Beide Seiten gehen damit in einen kreativen Prozess, in dessen Verlauf biographisches Material in ein Kunstwerk einfließt.

Welche Kunstwerke sind im Projekt bisher entstanden?
Seit Juni 2021 sind ein gutes Dutzend sehr unterschiedliche Werke entstanden: Gemälde, Keramiken und Skulpturen. Die erste Vernissage war Weihnachten 2021 mit Bischöfin Kirsten Fehrs in der Vorwerker Diakonie in Lübeck. Noch bis 2023 wird beinahe jeden Monat ein weiterer „artengel“ in eine diakonische Einrichtung fliegen.

Wie finden Sie die Künstlerinnen und Künstler?
Ich kenne durch meine Arbeit viele Künstler*innen und wir erhalten auch viele Bewerbungen, teilweise sogar für eine bestimmte Einrichtung. Mir ist wichtig, dass wir auch Künstler*innen einbeziehen, die mit Kirche sonst gar keine Berührung haben. Eine Voraussetzung ist aber Feinfühligkeit für die besonderen Gespräche, aus denen die Kunstwerke dieser Reihe entstehen.

Was für ein Künstler ist Hauke Jessen?
Hauke Jessen, der das Kunstwerk für Das Rauhe Haus geschaffen hat, ist ein sehr offener Mensch, der gut zuhören kann. Seine Skulpturen und die Blicke und Gesichtsausdrücke seiner Figuren haben eine besondere Kraft. Als Bildhauer hat er eine ganz eigene Formensprache entwickelt, die ich faszinierend finde.

Ist es leicht, in den Einrichtungen Gesprächspartner*innen zu finden?
Ja! Es melden sich immer viele Menschen, die Lust haben auf Austausch. Und die Einrichtungsleitungen unterstützen das, weil unser Projekt die Bewohnerinnen und Bewohner mit etwas in Kontakt bringt, womit sie sonst vielleicht wenig Berührung haben: mit Kunst. Das provoziert auf beiden Seiten so eine Lebendigkeit. Die Gespräche sind oft sehr biographisch, manchmal tief persönlich. Anschließend sind die Interviewten natürlich neugierig, was für ein Werk dabei herauskommt.

Wie ist die Resonanz auf die „artengel“-Werke?
Wenn alle Beteiligten zum ersten Mal auf die Kunstwerke schauen - das ist mein Lieblingsmoment! Es ist immer völlig offen, wie die Reaktionen ausfallen. Die meisten reagieren sehr positiv. Es kann aber auch passieren, dass jemand sagt, er findet das Werk total blöd. Da nehmen die Menschen, die mitgewirkt haben, kein Blatt vor den Mund! 
In Greifswald fand unsere Aktion in einem Wohnprojekt für Menschen mit psychischen Erkrankungen statt. Am Anfang sagten sie, sie wüssten gar nichts mit dem Projekt anzufangen und äußerten viele Vorbehalte. Das von uns gewählte Thema „Gestalten der Liebe“ sagte ihnen überhaupt nicht zu, aber sie ließen sich am Ende darauf ein. Aus den Gesprächen entstand ein Werk, auf dem kleine Planeten mit igelartigen Stacheln zu sehen sind. Und dann geschah, was wir niemals erwartet hätten: Einige der Bewohnerinnen und Bewohner identifizierten sich regelrecht mit diesem Bild. So ist dieses Kunstprojekt immer für Überraschungen gut!